unterwegs…

Wenn Du entdeckst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab. (Sprichwort der Dakota-Indianer)

Tote Pferde haben eine Eigenschaft, die sie extrem attraktiv macht: sie lassen sich prima reiten. Weder sind sie bockig, noch nerven sie einen mit diesem komischen Gehoppel, sie werden nicht müde, brauchen kein Futter und keine besondere Pflege. Aber eine essentielle Eigenschaft fehlt ihnen: sie bringen einen nicht vorwärts. Aber dazu sind sie da.

(Sicher, ja: sie sind auch dazu da, mit wehender Mähne durchs spritzende Wasser der Camargue zu galoppieren und dabei unheimlich wild und romantisch auszusehen. Und das tun sie ja auch. Aber die anderen gibt es schließlich auch, und die werden gefüttert und versorgt. Und für regelmäßiges Einkommen, gesicherte Rente und Krankenversicherung kann man doch was erwarten, oder?)

Ich habe kein Pferd. Die meisten derer, die das lesen, sicher auch nicht. Jedenfalls keins im Stall; keins, das wiehert, wenn wir kommen und in uns diese Black-Beauty-Western-Nostalgie auslöst. Dennoch, das haben die Dakota-Indianer sehr richtig erkannt: wir Menschen beschäftigen uns einen Großteil unserer Zeit damit, tote Pferde zu reiten. Allegorische tote Pferde, versteht sich. Tote Pferde, das sind unbrauchbare oder unbrauchbar gewordene Transportmittel; das sind leere, leblose Hüllen – das sind zum Beispiel Liberte-toujours-Zigaretten statt wirklicher Freiheit; das sind zeitfressende Hobbys, die keinen Spaß und keine Entspannung bringen, Süchte, Ängste und Zwänge, Krankheiten, Behinderungen und Störungen; das sind nicht zu selten auch Kommunikations- und Verhaltensformen, Projekte oder Unternehmungen. Wir reiten tote Pferde in unseren Beziehungen, bei der Arbeit, in der Politik und ganz allein für uns selber. In Massenmails, auf Blödelseiten im Internet und an schwarzen Brettern in Firmen taucht immer mal wieder die Liste der Maßnahmen auf, wie wir auf die Entdeckung des tote-Pferde-reiten reagieren:

  • Wir besorgen uns eine stärkere Peitsche.
  • Wir sagen: „So haben wir das Pferd schon immer geritten”.
  • Wir gründen einen Arbeitskreis, um das Pferd zu analysieren.
  • Wir besuchen andere Orte, um zu sehen, wie man dort tote Pferde reitet.
  • Wir erhöhen die Qualitätsstandards für den Beritt toter Pferde.
  • Wir bilden eine Task-Force, um das Pferd wiederzubeleben.
  • Wir kaufen Leute von außerhalb ein, die angeblich tote Pferde reiten können.
  • Wir schieben eine Trainingseinheit ein um besser reiten zu können.
  • Wir stellen Vergleiche unterschiedlicher toter Pferde an.
  • Wir ändern die Kriterien, die besagen, dass ein Pferd tot ist.
  • Wir schirren mehrere tote Pferde gemeinsam an, damit wir schneller werden.
  • Wir erklären: „Kein Pferd kann so tot sein, das wir es nicht mehr reiten können.”
  • Wir machen eine Studie, um zu sehen, ob es bessere oder billigere tote Pferde gibt.
  • Wir erklären, dass unser Pferd besser, schneller und billiger tot ist als andere Pferde.
  • Wir bilden einen Qualitätszirkel, um eine Verwendung von toten Pferden zu finden.
  • Wir richten eine unabhängige Kostenstelle für tote Pferde ein.
  • Wir vergrößern den Verantwortungsbereich für tote Pferde.
  • Wir entwickeln ein Motivationsprogramm für tote Pferde.
  • Wir erstellen eine Präsentation in der wir aufzeigen, was das Pferd könnte, wenn es noch leben würde.
  • Wir strukturieren um, damit ein anderer Bereich das tote Pferd bekommt.

Es gibt also etliche Maßnahmen (und sicher ist dies nur ein kleiner Ausschnitt), die ergriffen werden können, damit alles so bleibt, wie es ist. Aufwendige Maßnahmen, finde ich. Und Aufwand wird normalerweise dort getrieben, wo er sich lohnt. Meine Frage ist also: warum mag ein Mensch das tun?

Die Antwort ist simpel: unterwegs zu sein ist anstrengend. Es ist entbehrungsreich, kostenintensiv, ungewiss, unsicher, ja, gefährlich, es verlangt Flexibilität, Neugier, Motivation, Mut und Bereitschaft zum Risiko. Wenn diese Faktoren größer sind als der Gewinn, den wir uns vom Unterwegssein versprechen, werden wir es vermeiden, die Reise anzutreten. Nur, warum setzen wir uns denn überhaupt auf ein totes Pferd, schreien „hüa“ und tun so, als würden wir vorwärtskommen?

Es gibt eine Sehnsucht nach Leben, die in uns liegt. Nach Tiefe in Beziehungen, nach Echtheit im Umgang, nach Frieden und sinnbringenden Beschäftigungen. Jeder Mensch weiß das. Auch weiß jeder, inwiefern ihm das fehlt. Und irgendwo wissen wir auch, dass der Verdacht, allen anderen ginge es da besser als uns, nicht stimmt. Deswegen wissen wir, wie gut es wäre, wenn wir uns auf den Weg machten. Und alle anderen wissen es auch. Jeder über sich und jeder über die anderen. Das Unterwegssein ist eine Notwendigkeit, und das ist uns klar. Dennoch: es kostet. Wenn wir nun die Kosten scheuen, uns aber weder vor uns selbst noch vor anderen dem Vorwurf ausgesetzt sehen wollen, faul in der Sonne zu liegen, suchen wir nach Ersatz: etwas, das mit weniger Aufwand und Schmerz verbunden ist, aber den sozialen Status dennoch erhält. Das ist die Geburtsstunde des toten Pferdes.

Ich wünsche mir und Ihnen für 2009 den Mut, tote Pferde als solche zu erkennen und vor allem abzusteigen.